C.O.R.E – Creative Organization Reactive to Evolution ging aus einem kontinuierlichen Prozess in Jacopo Godanis künstlerischem Werk hervor und griff etwas auf, das als verbindendes Element im Kern vieler seiner Choreografien präsent ist: die Evolution des Menschen.
Eines der wichtigsten Ereignisse im Rahmen der menschlichen Evolution, die Vergrößerung des Gehirns, ging mit einer Kaskade anatomischer Veränderungen an unseren Ahnen einher. Zahlreiche wissenschaftliche Theorien und Hypothesen begründen in unterschiedlichen Szenarien, warum sich unsere Vorfahren aufrichten mussten. Die vertikale Haltung ging bei hominiden Primaten einher mit einer besonderen Art der Fortbewegung: auf zwei Beinen. Parallel zu dieser Entwicklung vollzog sich eine Neujustierung von Schädel und Rückgrat sowie eine Umbildung des Halses, die sich auf Größe und Position des Schädels auswirkte, sodass Kopf und Rumpf schließlich vertikal über Hüften und Füßen standen. Der Fuß entwickelte ein Gewölbe, um das Körpergewicht tragen und die durch den aufrechten Gang entstandenen Belastungen abfedern zu können. Ergebnis all dieser Prozesse war ein durch natürliche Selektion herausgebildetes Mosaik von Merkmalen – eine funktionierende menschliche Körperstruktur. Nach vielen Millionen Jahren der Evolution gewann das Gehirn an Größe und Komplexität, die neuronale Verarbeitung wurde komplexer und erlaubte schließlich die Entfaltung des Bewusstseins, die Kunst der Sprache, abstraktes Denken und künstlerische Darstellung.
Godanis Faszination für die Evolution und sein Wunsch, choreografische Grenzen auszuloten, verlangten bei der Arbeit an dieser Produktion nach der Form des Experiments, welches für den Choreografen die Form einer kontinuierlichen Befragung annahm. Das Ergebnis ist nicht endgültig, sondern versteht sich vielmehr als eine Art Landkarte, als ein Instrument für die Suche nach der noch unbekannten Lösung. In seinem ersten Gespräch mit den Tänzerinnen und Tänzern bemerkt Godani: „Das Tanzmaterial, das wir jetzt lernen und abspeichern, kann etwas Vages sein, wie Wasser in einem Fluss – ein Muster. Sobald wir zum Charakter des Stücks vorstoßen, wird dieser zu unserer eigenen Architektur.“ Dann würde sich die Landkarte verändern.
Eingebettet in die Choreografie von C.O.R.E waren neben Konzepten wie Evolution und Experiment auch narrative Elemente in Form von Projektionen, Text und Stimme aus dem Off. In diesem Fall bildete die Choreografie das Medium, anhand dessen die Realität aus dem Tanzstudio auf die Bühne transportiert wurde. Als „sinnstiftendes“ Regelwerk entwickelte sie ein abstraktes Narrativ für Godanis ureigene Kosmologie. Sie war Teil der Landkarte, die Tanzende wie Zuschauende durch diese Reise führt. Michael Tucker, Tänzer der Company, stellt fest: „Beim Tanzen der Choreografie denkst du an Musikalität, an Dynamik … es ist, als müsste man mitsingen. Es ist wie Noten lesen, aber mit dem Körper, eine choreografische Landkarte.“
Die choreografische Sprache bewegte und entwickelte sich während der Probenphase in eine fundierte, klare Richtung. Pas de deux und Soli wurden atavistisch. Gleichzeitig bewahrten die Gruppenszenen den Gedanken struktureller Architektur. Der Kampf um Kontinuität, Verständnis und bedachtes Reagieren ist charakteristisch für Godanis Arbeit. Die Wahrnehmung dieser Auseinandersetzung, die sich in seiner Arbeit ausdrückt, ist bestimmender Faktor seiner Choreografien.
Choreograf, Tänzerinnen und Tänzer tauschten sich im Zuge des künstlerischen Prozesses ständig aus und sprachen dabei zahllose Fragen an: Wie vermitteln wir unsere Realität? Wie beziehen wir das Publikum in unsere Forschung ein? Wie können wir diese Erfahrung vermitteln? Was, wenn eine für uns augenscheinliche Anomalie oder Veränderung bloß der nächste Evolutionsschritt ist? Und welches Nachspiel werden solche Anomalien in unserer Zukunft haben? Warum ist es so schwer, mentale Muster zu überwinden? Warum verlassen wir uns so sehr auf Gewohnheiten? Bekämpfen wir Überzeugungen oder physische Gewohnheiten? Oder handelt es sich um einen Kampf zwischen unterschiedlichen Interpretationen und Überzeugungen? Welche mentale Verschiebung arbeitet heute für uns? Auf reflexive Fragestellungen dieser Art folgt eine neue Herangehensweise an die künstlerische Arbeit, „die uns im kreativen Prozess weit voran bringen wird“ (Godani im Gespräch mit den Tänzerinnen und Tänzern).
Text von Luisa Sancho Escanero mit wissenschaftlicher Unterstützung von Dr. Violeta Muñoz-Fuentes (Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt)
C.O.R.E
Choreografie Jacopo Godani
Licht, Bühne, Kostüme Jacopo Godani
Musik 48nord (Ulrich Müller & Siegfried Rössert)
Videoprojektion, Konzept und Design Jacopo Godani
3D-Animation, Illustrationen Amir Andikfar, Jonas Lauströer
Videorealisierung Dietrich Krüger, Rosalie Wernecke
Text Jacopo Godani, Luisa Sancho Escanero
Künstlerische Koordination / Choreografische Assistenz Luisa Sancho Escanero
Uraufführung 4. Februar 2016, Dresden Frankfurt Dance Company, Hellerau - Europäisches Zentrum der Künste, Dresden