Frankfurt Dresden Dance Company - Jacopo Godani

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„DIE ZEIT HAT AUCH ETWAS GEGEBEN“


HOMEDANCING IN ZEITEN VON CORONA

Der Komponist Igor Strawinsky hatte einmal die kühne These aufgestellt: „Meine Freiheit wird umso größer sein, je enger ich mein Aktionsfeld abstecke und je mehr Hindernisse ich ringsum aufrichte. Je mehr Zwang man sich auferlegt, umso mehr befreit man sich von den Ketten, die den Geist fesseln.“ Für aufgerichtete Hindernisse ist dank der Corona-Pandemie derzeit bei Künstlerinnen und Künstlern an vielen Orten auf der Welt gesorgt. Vor allem bei jenen, deren Kunst von Interaktion und Kommunikation lebt, von Nähe und Berührung – wie für die Dresden Frankfurt Dance Company: Nicht nur ihr laufendes Programm „Alter Ego“ musste abgesagt werden, sondern auch ein Projekt mit dem hr-Sinfonieorchester sowie zwei neue Arbeiten, die in Dresden hätten gezeigt werden sollen.

Zurück auf der Bühne
Nach langen Wochen des Lockdown ist die Company inzwischen ins Bockenheimer Depot zurückgekehrt, um wieder gemeinsam zu arbeiten, unter entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen, versteht sich. Es sind keine leichten Bedingungen, und der Künstlerische Direktor Jacopo Godani hält nicht viel von der These der großen künstlerischen Freiheit, die innerhalb des abgezirkelten Bereichs wartet. „Man kann natürlich immer sagen, dass Beschränkungen eine kreative Herausforderung sein können. Aber als junger Künstler, so mit 19 oder 20, habe ich schon genug herausfordernde Einschränkungen erlebt: Es gab kein Budget, es gab überhaupt gar nichts. Ich bin damit durch, ich brauche keine solche Herausforderung mehr. Natürlich finde ich es schön, wieder mit den anderen Tänzern zusammen zu sein, aber die Tatsache, dass wir nicht wirklich nahe beieinander sein können, ist einfach nur furchtbar!“

Beengte Räume – neue Möglichkeiten
Fragt man die Tänzerinnen und Tänzer der Company, wie sie die Wochen des Lockdown erlebt haben, berichten sie durchaus von kreativen Potenzialen innerhalb des abgegrenzten Raums. Kevin Beyer etwa gewinnt der verordneten Isolation nicht nur schlechte Seiten ab: „Es ist natürlich die Aufgabe eines Tänzers, sich fit zu halten. Das war jetzt ganz interessant: Dadurch, dass man in einem sehr beengten Raum war, ergaben sich ganz andere Möglichkeiten zu denken oder Tänzerisches umsetzen. Sonst glaubt man vielleicht, man muss groß tanzen, aber jetzt ist alles kleiner, detaillierter. Es wird nicht nur etwas weggenommen. Ich finde, diese Zeit hat auch etwas gegeben.“

Menschliche Kreaturen und Skulpturen – das SELFLESSNESS-Projekt
Aber es ging um weit mehr, als nur physisch in Form zu bleiben. Dafür hatte Godani gesorgt, indem er die Company mit Aufgabenstellungen für die Zeit des „Homedancing“ versorgt hatte, um sie im wahrsten Sinne des Wortes „bei der Stange zu halten“. Die aufwändigste darunter: eine Studie zur Arbeit mit dem Körper unter dem Titel „Selflessness“, also „Selbstlosigkeit“. Godani hatte die Tänzerinnen und Tänzer gebeten, kurze Videos zu erstellen – aber nicht nach Art der vielen derzeit medial verbreiteten Clips mit Ballettszenen in der Küche oder im Schlafzimmer und auch nicht als Mittel der Selbstdarstellung. Die Vorgabe lautete vielmehr: Keine Gesichter sollten zu sehen sein, keine Körperteile klar definiert. Stattdessen sollte etwas Neues zwischen Kreatur, Tier und Skulptur geschaffen werden. Ein eigenständiges Wesen in eigenem Kostüm, in eigenen Farben, mit eigener Charakteristik, fremd und verwirrend, gefilmt vor neutralem Hintergrund. „Zeigt, dass da ein Geist hinter der Arbeit steckt, dass ihr einen einzigartigen Raum und einzigartige Bewegungen schafft“, hatte Godani seine Company-Mitglieder aufgefordert.

Inspiration aus der engsten Umgebung
„Wir mussten uns selbst durchbeißen“, erzählt Tänzerin Roberta Inghilterra, „unsere Kostüme entwickeln, und zwar zuhause. Man muss sich um die Kameraperspektive kümmern, alles arrangieren. Was habe ich zuhause überhaupt an Material? Aber dann merkt man, dass es doch ganz einfach ist, weil sich eigentlich alle möglichen Objekte neu nutzen lassen.“ Und Kollegin Anne Jung ergänzt: „Jede Kleinigkeit kann eine Inspiration sein. Eigentlich liegt alles direkt vor einem, aber wenn zu viel möglich ist, sieht man die Kleinigkeiten um sich herum gar nicht.“ Die Aufgabe inspirierte Anne Jung zu gleich zwei Kreaturen: einem Fantasiewesen in kräftigen Farben, unbeholfen und gelenkig zugleich, sowie einem fragilen Geschöpf in Tüll und unterschiedlichste Stoffschichten und Bandagen. „Hinter diesem transformierten, eingezwängten Körper steckt auch etwas Emotionales“, erläutert Anne Jung. „Der Körper ist bandagiert, weil ich ihn momentan nicht so nutzen kann wie sonst, sondern er sich anfühlt wie verletzt. Das Verletzlichste für einen Tänzer ist ja auch die Situation, in der wir uns gerade befinden: Wir können uns nicht frei bewegen, nicht frei tanzen, andere treffen im Tanzen.“

Aus der Zweidimensionalität auf die Bühne
Entstanden sind insgesamt 18 Miniaturen, Fabelwesen mit individuellen Charakteren, die zunächst im Video festgehalten und auf Facebook veröffentlicht wurden. „Für viele von uns war es das erste Mal überhaupt, mit Video zu arbeiten. Jetzt waren wir plötzlich damit konfrontiert zu filmen und zu schneiden, aber das hieß, wir konnten uns auch künstlerisch austoben“, sagt Kevin Beyer. Für Roberta Inghilterra war gerade dieser Teil der Arbeit „eine echte Herausforderung. Da habe ich viel gelernt, dafür bin ich sehr dankbar. Das ist ein Schritt hin zu etwas, was ich zukünftig bestimmt noch gut gebrauchen kann.“
Schließlich barg die Begrenzung auf die Zweidimensionalität des Bildschirms auch spannende Möglichkeiten: Außergewöhnliche Kameraperspektiven verstärken in vielen der Videos das angestrebte Verwirrspiel mit dem Körper – kaum ist mehr zu erkennen, wo vorne und hinten, oben und unten ist. Montagen lassen mehrarmige Gestalten entstehen. Schnitte schaffen eine zusätzliche Dramatisierung.
Dennoch war für Godani schnell klar, dass die entstandenen Geschöpfe unbedingt auch auf die Bühne gehören. Und so arbeitet die Company derzeit an einer Übertragung dieser lebenden Skulpturen auf eine insgesamt zweistündige Performance, die im Bockenheimer Depot in Frankfurt im 20-Minutentakt besucht werden kann. „Wir müssen dafür gar nicht so viel verändern. Vielleicht noch mehr am Timing arbeiten und an der physischen Präsenz. Beim Videomaterial kann man schneiden, wenn etwas nicht trägt. In echt geht das natürlich nicht!“
Die große Aufgabe bleibt derweil eine andere: „Wie können wir überhaupt künftig performen, so dass es sicher für uns alle ist“, das beschäftigt Godani. „Denn das ist erst der Anfang. Die Herausforderung wird sein, wie wir das für ein Jahr oder vielleicht auch zwei lösen.“

Text: Ruth Seiberts, © Fotos: Anne Jung, Ulrike Schmid, Tars Vandebeek

Hier geht es zur Videosammlung Selflessness.